Die Interieurs der Petra Fiebig

Alejandro Perdomo Daniels, freier Kurator
2018

Die Eruierung von Intimitätswerten anhand des Bezuges zu Wohnräumen stellt ein zentrales Anliegen in der Poetik des Raumes (1957) des Gaston Bachelard dar. Ein Philosoph, der die Behauptung aufstellte: „[Das Haus] ist Körper und Seele. Es ist die erste Welt des menschlichen Seins. Bevor er ‚in die Welt geworfen’ wird, wie die eiligen Metaphysiker lehren, wird der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt. Und immer ist das Haus in unseren Träumen eine große Wiege. Eine konkrete Metaphysik darf diesen Sachverhalt nicht außer acht lassen, um so mehr, als dieser schlichte Sachverhalt, ein großer Wert ist, zu dem wir in unseren Träumereien immer wieder zurückkehren.“ Dem Philosophen geht es dabei offensichtlich nicht um eine Wissenschaftsphilosophie, sondern um eine Philosophie der Poesie. Eine, die auf der Suche nach dem eigentlichen Bild ist, das die ästhetische Schöpfung veranlasst. Und dieses verortet Bachelard unzweideutig in den Erfahrungen, die das subjektive Sein in den Räumen des bewohnten Hauses macht.

Mit ihrem Zyklus Interieurs (ab 2016) lässt die Bremer Künstlerin Petra Fiebig die Abstraktheit dieser Auffassung nachvollziehbar erscheinen. Bei dieser Serie handelt es sich um die Darstellung und Erschaffung von Innenräumen. Die Künstlerin bedient sich hierfür tradierter Mittel der bildenden Kunst. Mit der Technik der Schraffur, die in den grafischen Künsten das Darstellen von Schatten und somit von Volumen durch die Verdichtung aneinandergesetzter bzw. durchgekreuzter einzelner Linien ermöglicht, schafft Fiebig großformatige Abbildungen einheitlicher Raumsituationen. Die Suggestion räumlicher Tiefe entsteht in diesen nicht durch die perspektivische Darstellung dreidimensionaler Körper im Raum, sondern durch das Verhältnis zwischen dunkleren und helleren Bereichen auf der Bildfläche. Diese Gestaltungsweise erzeugt eine atmosphärische Wirkung im Bild, das im selben Augenblick vertraut wie unspezifisch vorkommt.

Größe und Gestalt der Bildträger spielen auch eine wichtige Rolle in Fiebigs Serie. Denn sie sind tatsächlich dreidimensionale großflächige Objekte, die in den realen Raum, in dem der Rezeptionsakt stattfindet, eindringen. Ihre Präsenz im Raum verändert ihn zugleich. So tritt parallel zur innerbildlichen Darstellungsebene eine zusätzliche Erfahrungsebene hervor, mit der der Rezipient mit seiner faktischen Körperlichkeit umzugehen hat. In dieser durch mächtige Bildträger gestalteten Raumsituation erscheinen die subtilen Darstellungen von Innenräumen als Projektionen auf eine bereits vorhandene Architektur. Daraus ergibt sich eine Spannungslage zwischen Abbildung und Gestaltung, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Sein und Schein.

Auf der Ebene der Repräsentation sticht die Tatsache hervor, dass die Räume menschenleer sind. Unmissverständlich lassen sie dennoch die Mitwirkung von Personen erkennen. Es sind schließlich häuslich anmutende Orte, die einen bestimmten Zustand ihres Selbst zeigen. Dementsprechend ist kein Geschehen in diesen zu verzeichnen. Sie sind in ihrer radikalsten Stille nur da, auf ein permanentes Hier und Jetzt verweisend. Die nahezu lebensgroße Darstellung räumlicher Ansichten verstärkt ihrerseits den Eindruck des tatsächlichen Vorhandenseins, das zwar verschwommen erscheinen mag, aber nichtsdestoweniger real ist. Dies betont Fiebig pointiert, indem sie bestimmte Dinge aus der realen Welt einsetzt: hier einen Stock, da einen Kittel.

Die Anwesenheit des Realen erweist sich in Fiebigs Arbeit als vielschichtig. Auf Repräsentationsebene ist sie trotz ihrer Dauerhaftigkeit gänzlich ungreifbar, wie der Blick durch ein großflächiges Fenster, aus dem sich vage Architekturelemente, die überall verortet werden können, erahnen lassen. Oder wie die Ansicht eines mit luftigen Gardinen bedeckten Fensters, das abgesehen von der Stofflichkeit der Gardinen selbst und der offensichtlichen Dialektik zwischen einem Innen- und Außenraum nichts erkennen lässt. Eindeutig ist nur der Standpunkt, der unverkennbar im Inneren des Hauses zu verorten ist, wie der neugierige Blick auf eine Zimmerecke verdeutlicht: In ihrer monotonen Kargheit eröffnet sich ein Universum topographischer Besonderheiten, die erst durch ausgedehnte Verweilzeiten im Raum entdeckt werden können.

Was sich da verdichtet, sind Intimitätswerte, die der Erfahrung in der Ausgedehntheit privater Räume entspringen. Schlägt sich in der Erinnerung die Prägung des Erlebten als subjektive Größe nieder, so liegt es an dem Raum, dass das Erlebte verortet wird. Demgemäß hat die Darstellung von Orten, die dem Inneren des Hauses zuzuordnen sind, eine Wertigkeit hoch subjektiver Art, deren Qualität mit den Emotionen besetzt ist, die das empirische Subjekt mit den Innenräumen in Verbindung bringt. In Fiebigs Arbeiten wird dieser Sachverhalt angesprochen. Ihre Räume stellen gewöhnliche Schauplätze des privaten Wirkens dar, die in ihrer Verschwommenheit und Stille von der Zeit entkoppelt zu sein scheinen, sodass sie als allgemeiner Bezugspunkt für die subjektive Vergegenwärtigung menschlicher Erlebnisse fungieren können. Eine Wirkung, die nicht nur durch den abbildenden Charakter der Arbeiten erzeugt wird, sondern auch durch die Mehrdeutigkeit, die sie in ihrer doppelten Beziehung zum Raum aufweisen.

Es ist daher nicht die Wirklichkeit der Erfahrungsräume, ob abgebildet oder konstruiert, der entscheidende Faktor für die Bestimmung von Sinnzusammenhängen. Als Anhaltspunkt für die Ermittlung von Bedeutung erweist sich eher die Weigerung, den Räumen eine lineare Zeitlichkeitsentwicklung zuzuweisen, bzw. sie mit der konkreten Biografie einer historischen Person zusammenzuschließen. In ihrer Ambivalenz und Ungreifbarkeit gestaltet sich Sinn. Denn sie ermöglichen, dass der Erwartungshorizont des Rezipienten, der nach Bedeutung sucht, aktiviert wird. Sie vermögen einen Denkprozess auszulösen, in dem es offensichtlich wird, dass die Arbeiten gerade in ihren Auslassungen Sinn stiften. Eine Tatsache, die umso mehr ins Gewicht fällt, als sich alle Auslassungen auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: die fortwährende Abwesenheit deren, die als Grund für das Bestehen der Räume gelten: die Menschen.

Der Umstand, dass der Rezipient in seiner ganzen Körperlichkeit mit den Arbeiten konfrontiert wird, lässt die inhaltliche Abwesenheit menschlichen Daseins ebenfalls an Bedeutung gewinnen. Denn der Rezipient wird durch diese Rezeptionsbedingung in die Situation gebracht, als reale Integrationsmacht vor Ort aufzutreten. Diese Auslassung erweist sich als Motiv und zentrales Thema in Fiebigs Serie. Es ist der Mensch, der nicht da ist, auf den die Arbeiten ununterbrochen verweisen. Er ist die Instanz, die Gegenstände in Beziehung setzt und Räume gestaltet. Die Instanz, der die Bereiche im Inneren des Hauses gehören und für die die Trivialität einer Zimmerecke, eines unscheinbaren Fensters, eines gewöhnlich eingerichteten Raumes oder eines trüben Blickes nach Außen Sinn ergeben. Für ihn sind all diese Räume keine belanglosen Bühnen, sondern grundlegende Kategorien seiner Existenz. Drückt sich in diesen Bereichen des Privaten die unmittelbarste Dimension seines Selbst aus, so enthüllt der Raum in dessen Abwesenheit seine Bedeutung als fundamentalen Bezug menschlichen Seins. Dabei ist und bleibt dieser Mensch ein Unbekannter, zu dem keine Beziehung hergestellt werden kann. Somit ist nur der ureigene Bezug der Innenräume zur menschlichen Existenz als Sinnkategorie zugänglich. Ein Bezug, mit dem jeder Rezipient, insofern er auch ein Mensch ist, Empfindungen und Vorstellungen verbindet. Darin liegt der Sinnzusammenhang der Interieurs der Petra Fiebig begründet, im Anliegen, die Intimitätswerte der privaten Besitzräume als verbindendes menschliches Prinzip mit den Mitteln der Ästhetik spürbar werden zu lassen.