Interieur

Veronika Wiegartz, Kustodin am Gerhard-Marcks-Haus, Bremen
2018

Innerhalb der letzten zehn Jahre gibt es drei Konstanten im Werk von Petra Fiebig: das Interieur als Sujet, der Bleistift als zeichnerisches Gerät und die Ausdehnung ihrer Bildfindungen in die dritte Dimension. Im Rahmen dieser Parameter aber zeichnet sich ihr Werk durch eine lebendige Entwicklung aus. Ihr Ansatz ist freier, die Resultate sind offener geworden. 

Alles begann damit, dass Petra Fiebig Objekte des täglichen Lebens auf fünf bis zehn Zentimeter große Papierwürfel bannte. Die Form des Würfels und das gezeichnete Objekt, zum Beispiel eine Schere oder ein Stuhl, verhalten sich bei diesen frühen Arbeiten autonom zueinander. Auf den sechs Flächen des Würfels findet man verschiedene Anschnitte oder Details des jeweiligen Gegenstandes, in einigen Fällen laufen die Zeichnungen zusammenhängend über mehrere Flächen hinweg. Aber die Größe des Würfels korreliert nicht mit der Größe des gezeichneten Objekts. Ein Stuhl, ein Topf, ein Aktenordner, sie erscheinen zwangsläufig als Miniaturen. 

In einem folgenden Schritt wuchsen die Würfel auf den Maßstab der gezeichneten Gegenstände heran. Diese zeigen nun sechs unterschiedliche Ansichten eines Dings, so wie es der Wirklichkeit entspricht. Dargestelltes Objekt und Bildträger sind miteinander verschmolzen und eins geworden. Ein Kühlschrank mit Gefrierkombination ist nun auf das stattliche Maß von 186 x 60 x 60 cm angewachsen, bildet vorne zwei Türen und auf den Seiten das übliche Sammelsurium von mit Magneten gehaltenen Postkarten, Zeichnungen, Zettelchen und Gimmicks ab. Aus diesen gezeichneten, aber dennoch realen Objekten lassen sich konkrete Raumarrangements schaffen. Ein Betrachter betritt den Ausstellungsraum als ein im wahrsten Sinne des Wortes möbliertes Zimmer. Ergänzt wird das Arrangement durch echte Möbel, wie einen Tisch oder ein Wandbord aus Holz, aber auch durch illusionistisch auf die Wand gezeichnete Möbel, etwa ein Bücherbord oder ein Sofa. Den gezeichneten Gegenständen wohnt eine gewisse Schärfe und ein hoher Detaillierungsgrad inne. Trotz des weichen Bleistiftstrichs sind sie dinghaft konkret.

Dann kehrte Petra Fiebig scheinbar zur klassischen Interieur-Darstellung zurück. An den Wänden ihres Ateliers finden sich kleine und große Leinwände, die für den Betrachter den Blick in einen Raum öffnen, den er nicht betreten wird. Angeregt durch einen Besuch in einem großen, möblierten, aber unbewohnten Haus entstand 2014 eine ganze Serie von Arbeiten, die mit einem schonungslosen Blick für das Detail und durch die Wahl ungewöhnlicher Formate, Perspektiven und Ausschnitte ein ganzes Lebenspanorama vor Augen führt. Zeit wird hier ebenso konserviert (wer hat heute noch einen Vorhang vor dem Regal?), wie Lebensstil (wuchtige Polstergarnituren sind in anderer Form wieder modern) oder geschmackliche Entgleisungen (wenn der Blumenprint der Gardinen aus den 1970er-Jahren auf denjenigen der Tapete aus den 1960er-Jahren trifft). Die Bewohner des Hauses sind abwesend, aber die Dinge, mit denen sie sich umgaben, gewähren einen Einblick in ihr Leben. Dabei ist es immer das Beiläufige, das Petra Fiebig interessiert. Sie zeigt nicht das repräsentative Wohnzimmer, sondern die häuslichen „Unräume“, das Bad und die Küche als eine ins Panorama erhobene Totale. 

In den jüngsten Arbeiten hat sich Petra Fiebigs Blick noch einmal verändert. Die Zeichnung hat einen Teil ihrer Schärfe verloren. Nur schemenhaft treten Raum, Möbel und Gegenstände aus der Fläche hervor. Dafür verfügen die Arbeiten erneut über ein dreidimensionales Moment, eine Art Fortsetzung des gezeichneten Raums in den Raum hinein. Wie so etwas funktioniert, dafür hat sie verschiedene Strategien entwickelt. Eine knüpft an die real möblierten Zimmer an, sie manifestiert sich in einer Erweiterung der Leinwand auf die Wand. Der Raum einer Fabrik oder Werkstatt, angedeutet durch eine fast sphärisch gezeichnete Mauer mit hochliegendem Fenster wird ergänzt durch zwei Arbeitskittel aus Stoff, die neben der Leinwand auf der Wand des Ausstellungsraums hängen. Der Betrachter bewegt sich dadurch auf zwei verschiedenen räumlichen Ebenen. Soll er eintauchen in den imaginären Raum? Oder bleibt er zurück im realen, in dem er durch die objektiv anwesenden Gegenstände gehalten wird?

In einer zweiten Strategie kommt zur Leinwand kein konkreter Gegenstand hinzu, sondern eine offene Box, die selbst umgibt und gleichzeitig Bildträger ist. Auf ihr befinden sich teils dieselben Möbel und Gegenstände wie auf der dahinter hängenden Leinwand und teils eine diese ergänzende Zimmerausstattung. Durch die Kombination des auf der Leinwand gezeichneten Interieurs mit den Darstellungen auf der im realen Raum stehenden Box wird die auf der Leinwand dargestellte räumliche Ebene dupliziert und nach vorne in den tatsächlichen Raum verschoben. Ob sich die beiden Ebenen perfekt ergänzen, wie sich der Blick und die Perspektive in den imaginären Raum hinein verschieben oder ob beide Ebenen in der Wahrnehmung am Ende auseinanderfallen, ist eine Frage des Standpunkts. Der Betrachter wird nicht andächtig vor der Leinwand verharren, sondern er wird sich bewegen, genauso wie es dreidimensionale Kunst einfordert.

Das Interieur – ohne die Anwesenheit von Menschen – ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, hat aber bis heute seine Aktualität und seinen Reiz nicht eingebüßt. Der Betrachter erhascht einen Ausschnitt aus einer ihm unbekannten Lebenswelt und erhält dadurch den Status eines ungebetenen Besuchers. Seine Situation bleibt ambivalent. Die natürliche Neugierde und das Wissen um eine Grenzüberschreitung vermischen sich. Diese Ambivalenz erfährt in den Arbeiten von Petra Fiebig eine Steigerung durch die unterschiedlichen räumlichen Realitäten, denen sich der Betrachter ausgesetzt sieht und durch die Vermischung von tatsächlich anwesenden und gezeichneten, fiktiven Gegenständen. Der Bleistift, oft in kurzen, schraffurartigen Strichen geführt und je nach gewünschtem Tonwert mehrfach übereinandergelegt, gewährleistet dabei beides: malerische Werte und den präzisen Strich. Die Monochromie der Arbeiten gemahnt in unserer heutigen, sehr bunten Welt an die reduzierte Schönheit alter Schwarzweiß-Fotografien und setzt den Fokus auf das Wesentliche. Die Arbeiten von Petra Fiebig sind nicht laut, aber sehr präsent.